Wie führt man einen Zivilprozess in Großbritannien?
In UK Prozesse zu führen ist etwa drei bis viermal so teuer wie in Deutschland. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass sich die dortigen Prozessanwälte (zur Unterscheidung Solicitor und Barrister) mehr Arbeit machen. Im Gegenteil: Ein deutscher Rechtsanwalt ist beim ersten Kontakt mit einer Klageschrift im UK-Style regelmäßig entsetzt. Wo man hierzulande jede relevante Tatsache einzeln unter Beweis stellt und ganz konkrete Klageanträge stellt, wird in England mit Formularen (Claim Form), sehr knappen Sachverhaltsdarstellungen und erstaunlich allgemein gehaltenen Klageanträgen gearbeitet. Die Klagebegründung (Particulars of Claim) umfasst selbst in komplizierten Fällen meist nur wenige Seiten und konkrete Beweisangebote schenkt man sich im ersten Durchgang meist völlig. Stattdessen muss der Kläger ein „Statement of Truth“ persönlich unterschreiben und der Klageschrift beifügen, womit er versichert, dass der Klagevortrag nach seiner Überzeugung korrekt ist („I believe the facts in this Particulars of Claim are true“).
Um eine Vorstellung von der Praxis zu bekommen hier ein reales Beispiel aus unserer Kanzlei: Eine deutsche Beraterin hat mit einem englischen Bekannten eine mündliche Treuhandabsprache über die Gründung einer englischen Limited und das anschließende treuhänderische Halten der Shares getroffen. Dafür gibt es Zeugen. Nachdem auf dem Konto der Limited gut 200.000 Pfund Guthaben aufgelaufen waren, wollte der englische Treuhänder nichts mehr von der Treuhandabsprache wissen, löste die Limited auf und wollte das Guthaben einstreichen. Ein sowohl rechtlich, wie tatsächlich vielschichtiger Fall mit sechsstelligem Streitwert, den wir zusammen mit einer renommierten Kanzlei in Bristol betreuen. Hier die Dokumente, die der von der UK-Kanzlei hierzu beauftragte Barrister bei der Chancery Division des High Court of Justice eingereicht hat:
- Klageanträge: Claim_Form_UK_Sample
- Klagebetründung: Particulars_of_Claim_Example
Eine Klageschrift von drei Seiten! Ebenso verblüffend für den deutschen Rechtsanwalt: Kaum konkrete Daten und Orte, keine Urkunden oder Benennung von Zeugen als konkrete Beweisangebote. Ja, obwohl es im vorliegenden Fall wohl entscheidend auf die Aussagen der Zeugen ankommt, die die mündliche Treuhandabrede miterlebt haben, wird hier in der Klageschrift nicht einmal erwähnt, dass es dafür Zeugen gibt, geschweige denn deren Name genannt. Und schließlich noch Klageanträge, die – außer Anträge 1 und 2 – im Umfang völlig offen bleiben: „Damages“, „Costs“ und – mein persönlicher Liebling „further or other relief“ (also „anderweitige Abhilfe“).
Fazit: Bei der Erstellung von Klageschriften gehen deutsche und englische Anwälte ganz unterschiedlich vor. Während man nach ZPO den Vortrag sehr konkret substantiieren und jede einzelne Tatsache mit konkreten Beweisangeboten versehen muss, trägt der englische Prozessanwalt den Lebenssachverhalt als bloße Behauptung vor, ohne sich zunächst um Beweisangebote zu kümmern. Das ist aber natürlich nicht die ganze Story. Wenn der Beklagte den Vortrag bestreitet, muss der Klägeranwalt natürlich mit Beweisangeboten nachlegen. In UK verschiebt man dies aber nach hinten, sozusagen in die zweite Runde. Eigentlich effizient, denn was unstrittig ist, muss auch nicht mit Dokumenten oder Zeugenangeboten belegt werden. Auch auf die Prozesstaktik hat dies Auswirkungen: Der deutsche Beklagte kann aus der Klageschrift in der Regel bereits erkennen, wie gut der Kläger beweistechnisch dasteht. Der Defendant im englischen Zivilprozess tappt dagegen im Dunkeln, ob und welche Beweismittel der Kläger in der Hand hat.
Der deutsche Rechtsanwalt und Master of Laws Bernhard Schmeilzl berät seit gut 20 Jahren deutsche Firmen im englischen Recht, insbesondere in englischen Zivilprozessen, vor allem großen Wirtschaftsverfahren. Als Experte für das englische Zivilprozessrecht hat er den einzigen Praxisleitfaden zum englischen Zivilprozess in deutscher Sprache geschrieben, der im Herbst 2023 beim BECK-Verlag erscheint.
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Das anglo-deutsche Anwaltsteam der Kanzlei Graf & Partner löst seit 2003 deutsch-britische Rechtsfragen. Die Litigation-Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) ist auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl und Solicitor Jelowicki sind Experten für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Erbrecht und agieren auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.
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