Muster-Anwaltsbrief nach englischem Erbrecht

Kennt das englische Erbrecht (succession law) überhaupt einen Pflichtteilsanspruch? Ja und nein! Einen automatisch immer bestehenden Anspruch der nächsten Angehörigen auf eine Mindestbeteiligung am Nachlassvermögen, wie das in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist, kennt das englische Erbrecht nicht.

Informationen zum deutschen Pflichtteilsanspruch hier

und in diesem Video

Die englische Variante des Pflichtteilsanspruchs

Wenn es im Erbrecht von England und Wales (anders ist es in Schottland!) also zwar keinen automatisch immer bestehenden Pflichtteilsanspruch gibt, so haben manche Personen, insbesondere sogenannte „dependents“ und „cohabitees“, die Möglichkeiten, einen Geldanspruch gegen den Nachlass geltend zu machen, indem sie sich auf den Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 berufen, in der Praxis meist kurz als ‘the Inheritance Act’ oder ‘Family Provision Act’ bezeichnet. Der Gesetzeswortlaut ist hier abrufbar: www.legislation.gov.uk/ukpga/1975/63 

Unterschiede zwischen deutschem und englischem Pflichtteilsrecht

Anders als beim Pflichtteil deutscher Prägung ordnet der Inheritance Act keine feste Quote als Mindestbeteilung am Nachlassvermögen an. Das ob und das wie viel eines englischen „Pflichtteils“ hängt von den konkreten Umständen des Falles ab, insbesondere auch davon, ob und wie bedürftig (finanziell notleidend) der Anspruchsteller ist, wie groß das Nachlassvermögen ist, wie viele Begünstigte existieren, wie bedürftig die Erben selbst sind u.v.a.m. Insofern ist der Inheritance Act Claim restriktiver als der deutsche Pflichtteil, weil man die Bedürftigkeit darlegen muss. Nicht sehr angenehm, dem Anspruchsgegner und nötigenfalls dem englischen Zivilgericht offen legen zu müssen, wie arm und einkommenslos man ist. 

Andererseits geht der Inheritance Act Claim aber auch weiter als der deutsche Pflichtteil, weil – anders als in Deutschland – nicht nur die allerengsten Angehörigen berechtigt sind (Ehegatte, Abkömmlinge, Eltern), sondern zum Beispiel auch nicht verheiratete Lebenspartner, Stiefkinder, die ihm Haushalt gelebt haben, und generell jede Person, für die der verstorbene zu Lebzeiten erkennen ließ, dass er sich für diese Person (finanziell) verantwortlich fühlte.

Anwalts-Musterbrief zur Geldtendmachung des Inheritance Act Claim

Wie ein solcher englischer „Pflichtteilsanspruch“ in der Praxis geltend gemacht wird, zeigt dieses Musterbeispiel eines anwaltlichen Forderungsschreibens (letter of claim), PDF-Download:

Muster Anwaltsschreiben Pflichtteil England

Weigern sich die Erben, einen solchen Geldanspruch zu zahlen, muss der Anspruchsberechtigte seinen Inheritance Act Claim vor Ablauf der kurzen Verjährungsfrist von nur sechs Monaten ab Erteilung des englischen Erbscheins am englischen Zivilgericht einklagen. Man darf sich also nicht so lange Zeit lassen wie ein Pflichtteilsberechtigter in Deutschland (hier gilt die großzügige Verjährungsfrist von drei Jahren ab Kenntnis der Enterbung). Da in England strenge Voraussetzungen für die Erhebung einer Zivilklage gelten (siehe diesen Beitrag hier), sollte man den Anspruch so früh wie möglich geltend machen.

Weitere Informationen zum englischen Erbrecht und dem Inheritance Act Claim in diesen Beiträgen:

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren, bei Bedarf in enger Zusammenarbeit mit der englischen Partnerkanzlei Buckles Solicitors. Er ist Autor des im Januar 2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

Weitere Informationen zum englischen Zivilprozess in diesen Beiträgen:

–  Was verdienen Richter in England?

– Wie sieht eine Zivilklage in England aus?