Wenn ein Elternteil ohne Zustimmung des anderen das gemeinsame Kind von England nach Deutschland bringt
Von Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Experte für deutsch-englisches Zivilrecht
Fast jede Woche ruft mich eine Mutter mit einem oder mehreren kleinen Kindern an, die mir – so oder so ähnlich – folgende Geschichte erzählt:
„Mein Mann (oder Lebenspartner) ist Engländer. Wir haben vor wenigen Jahren zusammen ein Kind bekommen und haben das gemeinsame Sorgerecht. Wo wir später mal dauerhaft zusammen leben wollen, das stand noch gar nicht fest. Wir hatten da verschiedene Ideen und er wusste auch, dass ich vielleicht lieber in Deutschland wohnen möchte. Ich bin während der Schwangerschaft und Elternzeit erst mal zu ihm nach England gezogen und er hatte mir versprochen, dass wir über die gemeinsame Lebensplanung später noch reden und entscheiden.
Dann wurde die Beziehung immer schwieriger. England ist doch so ganz anders als Deutschland und ich habe da ja auch keine Familie und Freunde. Er wurde immer liebloser und auch mit dem Geld wurde es knapp. Als ich vorgeschlagen habe, dass wir nach Ablauf meiner Elternzeit nach Deutschland ziehen, meine Eltern uns mit der Kinderbetreuung helfen und ich dann auch wieder arbeiten könnte, wurde er richtig aggressiv und hat das komplett abgelehnt. Er fragte, was er denn in Deutschland solle. Sein Kind habe schließlich (auch) die britische Staatsbürgerschaft und er wolle, dass es in England aufwächst. Ich fand das so unfair! Als ich dann an Weihnachten mit dem Kind meine Eltern in Deutschland besuchte, womit er einverstanden war, entschied ich mich, nicht mehr nach England zurück zu gehen und sagte ihm das am Telefon.
Jetzt hat er am Family Court in England eine Klage eingereicht und das englische Gericht hat sogar schon einen Beschluss (Court Order) erlassen, wonach ich das Kind sofort nach England zurück bringen soll. Zudem hat er auch noch einen Antrag nach so einem seltsamen Haager Übereinkommen gestellt. Da habe ich einen Brief vom Bundesamt der Justiz bekommen, dass ein deutsches Familiengericht auch schon mit dem Fall befasst ist. Ich kann und will auf keinen Fall mit dem Kind zurück nach England. das ist alles so belastend und ich schlafe kaum mehr.“
Kindesentführung von Großbritannien nach Deutschland und umgekehrt
Solche Fälle (angeblicher) Kindesentführung (child abduction) sind dreifach schwierig: Erstens ist die rechtliche Materie kompliziert und nicht viele Anwälte kennen sich damit aus.
Zweitens sind sich die Parteien oft nicht einmal über den Sachverhalt einig: War unser Lebensmittelpunkt jetzt dauerhaft in England oder in Deutschland? Hatten wir vereinbart, gemeinsam hier zu leben oder sollte das nur ein Versuch sein?
Drittens liegen die Nerven bei den Beteiligten oft völlig blank, ein ruhiges und rationales Gespräch ist schon zwischen Anwalt und eigenem Mandanten (meist geht die Mutter, also Mandantin) schwierig, ganz zu schweigen von Gesprächen zwischen den sich misstrauenden Eltern.
Speziell für Fälle mit Bezug zu Großbritannien ist es besonders kompliziert, da seit Brexit die Brüssel-II-Verordnung nicht mehr greift. Dieser Beitrag will nun aber nicht die gesetzlichen Regelungen im Detail erklären. Hierzu findet man etwa auf der Website des Bundesamts der Justiz gut aufbereitete Informationen.
Typische Positionen der geflüchteten Mutter und des zurückgelassenen Vaters
Viel wichtiger als das Starren auf die konkreten Paragrafen ist aus meiner Sicht, dass beide Eltern verstehen, dass sie sich und ihrer Rechtsposition mit Maximalforderungen sowie mit wechselseitigen Drohungen mit Zivilklagen oder gar Strafanzeigen insgesamt, also auf die lange Sicht, nur schaden. Dem gemeinsamen Kind sowieso.
Inhalt meiner Erstberatung ist daher so gut wie immer, dem Elternteil den Blick zu erweitern und diesem klar zu machen, dass es gerade nicht nur um die akut anstehende Frage der Kindesrückführung geht, sondern um die Regelung der gesamten künftigen Lebensumstände der Familie.
Was meine ich damit? Gehen wir zurück zum obigen Beispiel und versetzen uns in die jeweiligen Positionen.
Der Vater hat in solchen Fallkonstellationen oft das folgende – neudeutsch – Mindset, befeuert von Testosteron und gekränkter Männerehre:
„Die spinnt wohl, der zeig ich’s. Mein englischer Anwalt hat mir ohnehin schon gesagt, dass ich den Antrag auf Kindesrückführung definitiv gewinne, weil das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt ja ganz klar in England hatte. Drum ziehe ich das jetzt durch. Notfalls lass ich das Kind in Deutschland von der Polizei abholen und in den Flieger setzen. Die müssen wieder her!“
Im Kopf der Mutter kreisen dagegen meist von früh bis spät folgende Gedanken:
„Ich halte es in England nicht mehr aus. Ich dreh da durch. Auch meinem Kind geht es schlecht. Ich will nicht mit ihm reden, er hört mir gar nicht zu oder schreit mich sogar an. Außerdem hab ich doch nie gesagt, dass ich bereit bin, dauerhaft in England zu leben. Das war doch bloß vorübergehend. Das Gericht darf auf gar keinen Fall entscheiden, dass das Kind wieder dahin zurück muss. Oh mein Gott, allein die Vorstellung, ich kann keine Nacht mehr schlafen. Wäre so ein Gerichtsbeschluss des englischen Familiengerichts hier in Deutschland überhaupt vollstreckbar?“
Erkennbare Schnittmenge: Null! Machen beide mit dieser Einstellung weiter, gibt es eine 100:0 Entscheidung des Gerichts. Ein Elternteil „gewinnt“, der andere „verliert“. Beide Begriffe setze ich in Anführungszeichen, denn ob der Vater wirklich gewonnen hat, selbst wenn es ihm gelingt, sein Kind mit rechtlichen Zwangsmitteln wieder zurück nach England zu holen, sei dahingestellt. Das Verhältnis zur Mutter ist spätestens jetzt für immer ruiniert. Das Kind wird das spüren.
Aber auch juristisch war die Kindesrückführung ja nicht der letzte Akt des Dramas, denn es stehen noch viele Themen an, bei denen der Vater vielleicht den Goodwill der Mutter gut brauchen könnte. Genau das will ich beiden Parteien frühzeitig verdeutlichen und deren Blick weiten.
Praxistipps vom Anwalt: Thema erweitern und Schlichtung versuchen
Vertrete ich – wie häufig – die nach Deutschland geflüchtete Mutter, mache ich dieser in der obigen Konstellation klar, dass ein durchaus großes Risiko besteht, dass die Gerichte eine Kindesrückführung anordnen und – falls sie sich dann immer noch weigert – diese Anordnung früher oder später auch zwangsweise durchgesetzt wird.
Das bedeutet aber natürlich nicht, dass mein Rat lautet, sich demütig den Forderungen des Vaters zu fügen. Im Gegenteil. Es geht darum, eine Strategie zur Lösung der Gesamtsituation zu erarbeiten. Dazu gehören meist folgende Aspekte:
- Dem Vater klar zu machen, dass – selbst wenn Mutter und Kind zurück nach England kommen – die Frau nicht wieder bei ihm einzieht, sondern sich entweder eine separate Wohnung in der Nähe nimmt (die er dann zahlen soll) oder – vor allem bei mehreren Kindern – beantragen wird, dass die Mutter die bisherige Wohnung nutzt und er sich eine andere Bleibe suchen muss.
- Dem Vater klar zu machen, dass die Mutter – wenn er gewöhnlichen Aufenthalt der Familie in England behauptet – einen Scheidungsantrag in England stellen wird, inklusive Antrag auf hälftigen Vermögensausgleich. In England bedeutet das bekanntlich „equal split“, der Vater muss also die Hälfte seines gesamten Vermögens (nicht nur des Zugewinns) abgeben; wenn die Mutter mehrere Kinder zu betreuen hat vielleicht sogar mehr als die Hälfte. Englische Gerichte sprechen der zu scheidenden Ehefrau, wenn diese (wie meist) sog. „primary carer“ ist, das Haus zu, selbst dieses im Alleineigentum des Vaters steht. Jedenfalls bis das jüngste Kind selbstständig ist. Mehr zum „equal split“ hier: www.cross-channel-lawyers.de/musterbeispiel-englischer-ehevertrag-pre-nup/
- Dem Vater klar zu machen, dass er – wenn die Mutter aktuell kein eigenes Einkommen hat – auch die Anwaltskosten seiner Frau zahlen muss, die in England bekanntlich extrem hoch sind.
Das sind nur einige der Themen, mit denen man einen übermäßig forsch klagenden Vater auf andere – unschöne – Gedanken bringen und etwas einbremsen kann. Auch die – oft panisch allein auf die Kindesrückführung fixierte – Mutter sieht dann etwas über den Tellerrand hinaus.
Nun braucht man „nur“ noch jemanden, der es schafft, dass die Parteien konstruktiv und hoffentlich angstfrei miteinander sprechen, ohne sich immer nur gegenseitig mit Konsequenzen zu drohen („Ich zwinge euch wieder nach England“ vs. „Ich nehme dir die Hälfte deines Vermögens ab und wohne in deinem Haus bis die Kinder groß sind“).
Am besten gelingt das mit Unterstützung durch Schlichter/innen und Mediator/innen mit Erfahrung im internationen Familien- und Sorgerecht. Zumindest zu Beginn kann das per Videokonferenz erfolgen, wenn – wie meist – die Mutter Angst davor hat, nach England zu reisen, weil dort ja ein Gerichtsbeschluss auf sie warten könnte.
Einigen sich beide Eltern darauf, eine solche Mediation wenigsten zu versuchen, verlieren die laufenden Gerichtsverfahren ihre Schrecken, weil man übereinstimmend deren Aussetzung beantragen kann „to stay proceedings“. Mediation setzt aber – wie oben erwähnt – voraus, dass beide Eltern ihre Bunker verlassen und sich von Maximalpositionen verabschieden. Die Mutter darf also ebenso wenig auf ihrer „ich und mein Kind setzen nie mehr einen Fuß auf die britische Insel“ bestehen wie der Vater bis zum Ende aller Tage mit dem moralischen (oder gar strafrechtlichen) Vorwurf „du hast bei Nacht und Nebel mein Kind entführt“ agieren sollte.
Nach meiner Erfahrung gehen Eltern (wenn sie sich wirklich ernsthaft darauf einlassen) häufig mit Lösungsansätzen aus einer Mediation heraus, an die vorher keiner der beiden gedacht hat. Im besten Fall sind die Eltern dann dauerhaft „on good speaking terms“, im zweitbesten Fall hat man wenigstens einen Vergleich gefunden, mit dem beide – wenn auch zähneknirschend – leben können. Und wenn die Mediation im schlimmsten Fall komplett scheitert, können immer noch die Gerichte entscheiden.
In England ist eine geeignete Anlaufstelle für internationale Familienrechtsmediation die gemeinnützige Organisation REUNITE INTERNATIONAL.
Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl ist seit 2003 auf deutsch-britisches Recht spezialisiert, Schwerpunkte Erbrecht, Nachlassabwicklung, internationale Zivilprozesse und auch Familienrecht. Er ist der Autor des Länderberichts zum Familienrecht von England und Wales im Nomos BGB-Kommentar:
Für familienrechtliche Beratung und Gerichtsverfahren in England benötigen Sie anwaltliche Hilfe vor Ort. Wir arbeiten seit 25 Jahren mit ausgewiesenen Experten für internationale Scheidungen und internationales Kindschaftsrecht in UK zusammen und empfehlen Ihnen auf Anfrage die für Ihren Fall am besten geeignete englische Anwaltskanzlei.
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Cross Channel Lawyers ist der Rechtsblog von Graf & Partner , gegründet 2003 und seither spezialisiert auf deutsch-britisches Recht. Die Familienrechtsabteilung berät internationale Paare – selbstverständlich auch LGBT-Paare – bei Fragen rund um die Themen Eheverträge und – wenn nötig – internationale Scheidung. Rechtsanwalt Schmeilzl verfasst den Länderbericht „Familienrecht England & Wales“ im BGB-Kommentar des NOMOS Verlags und ist ausgewiesener Experte insbesondere für die Themen deutsch-englischer Ehevertrag sowie deutsch-britische Scheidung. Mehr zum englischen Familienrecht hier