„Sie hat in Wahrheit kein einziges Baby getötet“

Die in England zu 15 Mal lebenslänglich verurteilte Kinderkrankenschwester Lucy Letby ist laut Expertengruppe von 14 Medizinprofessoren und Chefärzten unschuldig

Die britische Justiz hat ein Problem. Ein großes. Wieder einmal spricht viel dafür, dass eine Jury am englischen Crown Court ein eklatantes Fehlurteil gesprochen hat.

Die Verurteilung der zur angeblichen Tatzeit 25 Jahre jungen Krankenschwester Lucy Letby zu 15 Mal lebenslänglich Gefängnis ohne Chance auf Entlassung, wächst sich auf der britischen Insel gerade zu einem veritablen Justizskandal aus.

Es wäre nicht der erste. Das auf seine Rechtstradition so stolze England muss bereits auf eine Reihe von „miscarriages of justice“ zurückblicken, wie strafrechtliche Fehlurteile dort heißen: Von „The Birmingham Six“ und „The Guildford Four and Maguire Seven“, über Sally Clark, Barry George und Andrew Malkinson. Und aktuell eben: Lucy Letby.

Die Kritik am Urteil wird schon seit Juli 2024 immer lauter

Die Umstände des Falles – sieben tote Neugeborene, eine junge Krankenschwester als angebliche Mörderin, das Fehlen eines Motivs – waren Gegenstand vieler Podcasts. Nicht wenige hatten Zweifel an der Verurteilung geäußert. Andere wiederum diffamierten diese Zweifler als Verschwörungstheoretiker (mehr hier).

Ich habe den Fall schon einmal im September 2024 hier ausführlich geschildert und die juristischen Hintergründe aus Sicht eines Anwalts und Strafverteidigers analysiert. Insbesondere die Risiken des englischen Jury-Systems für Angeklagte.

Gruppe von 14 renommierten internationalen Experten zerpflückt das Gerichtsgutachten

Warum ist das Thema jetzt wieder in den englischen Medien?

Nun, am 4. Februar 2025 fand in London eine zweistündige Pressekonferenz statt, in der ein Panel internationaler Medical Experts, Professoren und Chefärzte aus der Neonatologie, ihren Bericht vorstellte, wonach Lucy Letby an KEINEM EINZIGEN der Todesfälle schuld ist. Alle 14 Experten, angeführt von Professor Shoo Lee, University of Toronto und Gründer der Canadian Neonatal Foundation, kamen zum Ergebnis: „Es gibt keinerlei medizinischen Beweis, der die Verurteilung von Lucy Letby rechtfertigt.“

Prof. Lee im Originalwortlaut:

“We did not find any murders. In all cases death or injury were due to natural causes or just bad medical care. In our opinion, the medical evidence doesn’t support murder in any of these babies.”

Wow! Deutlicher geht es nicht.

Eine Ohrfeige für den medizinischen Sachverständigen im Strafprozess, Dr. Dewi Evans, ein damals bereits im Ruhestand befindlicher, nun ja, Provinzarzt. Aber auch ein Armutszeugnis für das englische Strafverteidigerteam von Lucy Letby, das keinen eigenen medizinischen Sachverständigen benannt hatten, um das – wie sich nun zeigt offenkundig unhaltbare – Gutachten von Dewi Evans zu zerpflücken. So hörte die Jury damals nur die Version von Dr. Evans. Und ließ sich vom weißhaarigen angeblichen Experten überzeugen.

Besonders pikant: Der Experte der Anklage, Dr. Dewi Evans, hatte seine Theorie der „Tötung durch Luftembolie“ auf eine alte Veröffentlichung von Prof. Lee gestützt. Die er aber falsch interpretierte. Als Prof. Lee davon hörte, war er vom Strafurteil so empört, dass er 13 Kolleg*innen zusammenrief und alle angeblichen Tötungsfälle noch einmal untersuchte. Mit dem obigen Ergebnis.

Das Problem: Die Verurteilung zu 15 Mal lebenslänglich Gefängnis ist rechtskräftig. Das Berufungsverfahren ist längst beendet. Durch das Gutachten der internationalen Fachexperten entsteht nun aber endgültig ein so großer Druck in der britischen Öffentlichkeit, dass der Fall wohl definitiv vor die Criminal Case Review Commission (CCRC) gehen wird.

Der Guardian schreibt in einem Kommentar zu den neuesten Entwicklungen im Fall Lucy Letby:

„This is testing public confidence in everything“

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Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws (University of Leicester) ist Experte für deutsch-britisches Recht.