Der „letzte gewöhnliche Aufenthalt“ entscheidet, welches Erbrecht gilt und welches Nachlassgericht zuständig ist
Hatte der Verstorbene (der Erblasser) zur Zeit seines Todes mehrere Wohnsitze in verschiedenen Ländern, ist die erste und wichtigste Frage, die sich die Erben und das Nachlassgericht stellen müssen: Welcher dieser Wohnsitze war der „gewöhnliche Aufenthalt“ nach Art. 23 I EuErbVO , also der Lebensmittelpunkt.
Diese Frage des gewöhnlichen Aufenthalts (habitual residence) hat für die Nachlassabwicklung immens wichtige praktische Auswirkungen, da ausschließlich das Gericht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts für die Erteilung eines Erbscheins bzw. Europäischen Nachlasszeugnisses zuständig ist (außer das Testament enthält eine ausdrückliche Zuständigkeitsanordnung).
Verbrachte ein Rentner also die Hälfte des Jahres in seinem Haus in München und die andere Hälfte des Jahres in seiner spanischen Finca, dann wird es bei der Auslegung schwierig. Kommt man zum Ergebnis, der gewöhnliche Aufenthalt war in Deutschland, dann ist ausschließlich das Nachlassgericht München zuständig, auch für das Vermögen in Spanien. Das heißt, die Erben können gar keinen spanischen Erbschein beantragen, weil das dortige Nachlassgericht sich für unzuständig erklärt. Kommt man umgekehrt zum Ergebnis, dass der Lebensmittelpunkt Spanien war, können die Erben, zum Beispiel die in Deutschland lebenden Kinder, nicht das Nachlassgericht München anrufen. Stattdessen müssen die Kinder ein EU-Nachlasszeugnis in Spanien beantragen (mit allen praktischen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, etwa Übersetzungskosten, Apostillen usw.) und dann mit dem in Spanien erteilten EU-NLZ die deutsche Immobilie umschreiben und deutsche Bankkonten auflösen.
Wie definiert man nun den letzten „gewöhnlichen Aufenthalt“ eines Verstorbenen?
Welche Kriterien wenden die Nachlassgerichte an, wenn es mehrere Wohnsitze gab? Sehen wir uns ein paar Gerichtsentscheidungen dazu an:
- Das OLG Hamm (abgedruckt in NJW 2018, 2061) hatte einen Fall zu entscheiden, bei dem ein deutscher Rentner sich zwar überwiegend in Spanien aufhielt, aber auch immer noch Bezug zu Deutschland hatte. Er hatte sich zum Beispiel in Deutschland nicht beim Einwohnermeldeamt abgemeldet und hatte auch keinen Postnachsendeantrag gestellt. Das OLG kam zum Ergebnis, dass trotz des tatsächlichen Aufenthalts in Spanien der „gewöhnliche Aufenthalt“ im Sinne der EU-Erbrechtsverordnung immer noch Deutschland war und somit deutsches Erbrecht galt und das deutsche Amtsgericht zuständig war. Dass man dies mit guten Argumenten aber auch anders hätte bewerten können, zeigen die kritischen Aufsätze dazu in mehreren juristischen Zeitschriften, z.B. Mankowski in FamRZ 2016, 1297 sowie Kurth in IPrax 2019, 123.
- Das Kammergericht Berlin (abgedruckt in NJW-RR 2016, 1100) entschied im Fall eines Deutschen, der in Deutschland arbeitete, aber aus Kostengründen knapp jenseits der Grenze in Polen wohnte und von dort täglich über die Grenze pendelte, dass trotz der einzigen (!) Wohnung in Polen, der gewöhnliche Aufenthalt dennoch in Deutschland war. Ein wichtiges Kriterium für das Gericht war hier die Tatsache, dass der Grenzpendler gar kein Polnisch sprach, also faktisch wirklich nur zum Schlafen über die Grenze nach Polen fuhr.
Allein diese beiden Entscheidungen zeigen, dass schwer vorhersehbar ist, zu welchem Ergebnis ein Nachlassgericht in solchen Fallkonstellationen bei seiner Abwägung (nach § 343 Abs. 1 FamFG) kommt. Meistens berücksichtigen die Nachlassgerichte bei diesen internationalen Erbfällen Art. 4 EuErbVO sowie die Erwägungsgründe in Art. 23 und Art. 24 der EuErbVO. Die Gerichte versuchen dabei auch zu rekonstruieren, ob der Erblasser einen Willen zum Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts hatte. Bei geschäftsunfähigen Erblassern fehlt ein solcher Wille in aller Regel.
Fazit: Es geht bei der Definition des Rechtsbegriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ also nicht nur darum, die Tage zu zählen, ob jemand mehr als die Hälfte der Zeit im Ausland verbracht hat, sondern es müssen vom Nachlassgericht viele verschiedene Aspekte abgewogen werden.
Wer eine solche Unsicherheit vermeiden und seinen Erben einen teuren Streit über die internationale Zuständigkeit des Nachlassgerichts ersparen will, sollte sein Testament entsprechend professionell verfassen und die Zuständigkeit ausdrücklich anordnen.
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