So spannend lesen sich englische Urteile: Hier eine Entscheidung zur Unwirksamkeit eines englischen Testaments wegen Testierunfähigkeit und manipulativer Beeinflussung
Dass der einzelne Richter in UK eine herausgehobene Stellung hat – und zwar als konkrete Person, nicht als „Mitglied eines Spruchkörpers“ – erkennt man bereits daran, dass der Gerichtsentscheidung in England nicht wie in Deutschland das abstrakte „Im Namen des Volkes“ vorangestellt wird, sondern das Urteil im Namen des Richters ergeht. In unserem Beispiel (Download hier: Citation Number 2008 EWHC 2451), es handelt sich um einen langjährigen Erbstreit um die Gültigkeit diverser Testamente, steht deshalb auf Seite 1 der Entscheidung:
IN THE HIGH COURT OF JUSTICE
Before: MR JUSTICE BLACKBURNE
– J u d g e m e n t –
Das Urteil wird auch gerne mit dem Namen des Richters zitiert, hier also „Blackburne Judgement“.
Für den deutschen Juristen noch ungewöhnlicher: Der Richter verfasst seine Entscheidung in der Ich-Form. In der 94-seitigen Urteilsbegründung des hier genannten Beispiels werden nicht nur die Parteien mit vollem Namen und voller Anschrift genannt, sondern der komplette Sachverhalt mit allen persönlichen Details dargelegt. So – im Volltext – kommt die Entscheidung dann auch ins Internet (etwa hier) und die juristischen Publikationen, nicht etwa anonymisiert wie in Deutschland.
Der englische Richter hält auch nicht mit seinen persönlichen Einschätzungen hinter dem Berg. So liest man in Ziffer 50 der Entscheidung, was er von den Einlassungen der Beklagten im Nachlassstreit hält:
„I did not find her to be a reliable witness. She frequently evaded the questions put to her or responded by asking a question in reply. Some of her answers I found to be untruthful. Overall, she struck me as calculating and manipulative.“
Da muss die Beklagte zumindest nicht mehr rätseln, warum sie den Prozess verloren hat.
Zivilprozesse in England sind viel öffentlicher als in Deutschland
Juristen, die Rechtsfälle mit Bezug zu England bearbeiten, sollten sich immer wieder vor Augen führen, dass persönlicher Datenschutz auf der Insel einen viel geringeren Stellenwert hat als in Deutschland. Urteile werden online im Volltext veröffentlicht. Auch außerhalb von Gerichtsverfahren sind rechtliche Dokumente in UK oft frei zugänglich: Wir haben bereits in anderen Beiträgen darauf hingewiesen, dass jeder eine Kopie eines Testaments oder Erbscheins anfordern kann, ohne jeden Nachweis eines berechtigten Interesses (siehe hier). Da kann man dann lesen, wer die Begünstigten sind, wer Vermächtnisse erhält und wie hoch der Gesamtnachlass war. Auch das englische Grundbuch erlaubt es jedermann, die Eigentümer einer bestimmten Immobilie online zu recherchieren. Für deutsche Juristen unvorstellbar.
Mehr zum englischen Gerichtswesen und Zivilprozessrecht in diesen Beiträgen hier.
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Unsere 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist auf grenzüberschreitende Nachlassfälle spezialisiert. Wir haben mittlerweile gut 100 deutsch-britische Erbfälle begleitet oder vollständig als Administrator abgewickelt, inklusive Auflösung von Geldanlagen und Verkauf von Immobilien. Mitglied unserer Kanzlei ist die als UK Solicitor qualifizierte Kollegin Elissa Jelowicki, die bei der RAK München als Niedergelassene Europäische Rechtsanwältin registriert ist. In einem eintätigen Crash-Kurs „Praxis der Nachlassabwicklung und Erbschaftssteuer in UK“ teilen wir die so erworbene Erfahrung regelmäßig auch mit erbrechtlich tätigen Kollegen. Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors der Kanzlei Lyndales gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England), der seit 2001 auf die Abwicklung deutsch-britischer Rechtsfälle spezialisiert ist.