What is a „Pflichtteil“?
So die übliche Frage der Erbfallbeteiligten im englischsprachigen Ausland. Ein Pflichteilsrecht nach deutschem Verständnis kennen die Briten und Amerikaner nämlich nicht. Zwar gibt es in manchen U.S.Bundesstaaten einen sogenannten Elective Share Claim, aber nur für den überlebenden Ehegatten, nicht für Kinder oder Eltern. Im englischen (nicht aber im schottischen) Recht geht die Testierfreiheit sogar noch weiter als in den USA. Dort kennt man nur die Möglichkeit, im Rahmen der sog. Family Provision Regeln einen Anspruch gegen den Nachlass geltend zu machen, wenn es ais Sicht des Gerichts „unreasonable“ war, dass jemand im Erbfall leer ausgeht. Diese Fälle sind selten.
Wann greift in internationalen Erbfällen das deutsche Pflichtteilsrecht?
Zum einen natürlich dann, wenn für die Abwicklung des Nachlasses ohnehin das das deutsche Erbrecht gilt. Für alle Erbfälle ab dem 17. August 2015 ist dies dann der Fall, wenn der Verstorbene seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt (habitual residence) in Deutschland hatte. Dann berechnet sich der Pflichtteilsanspruch, zumindest aus Sicht des deutschen und EU-Recht, aus dem gesamten weltweiten Nachlass (Prinzip der Nachlasseinheit). Doch Vorsicht: anglo-amerikanische Rechtsordnungen sehen das anders. Aus deren Perspektive ist der Regelfall das genaue Gegenteil, also die Nachlassspaltung, d.h. die Vermögensmassen in verschiedenen Ländern werden jeweils getrennt abgewickelt und es gelten dann, jedenfalls für Immobilien, die jeweiligen Erbrechtsvorschriften des Belegenheitslandes, also für ein Haus in den USA eben das Erbrecht des jeweiligen U.S.-Bundesstaates.
Zum anderen kann das deutsche Erbrecht inklusive Pflichtteilsrecht aber auch dadurch anwendbar werden, dass das ausländische Recht auf die deutschen Bestimmungen verweist, wie eben der Belegenheitsgrundsatz (lex rei sitae principle) der meisten Common Law Rechtsordnungen. Oder wenn der Erblasser in seinem Testament ausdrücklich das deutsche Recht wählt, obwohl er nicht mehr in Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Berechnet sich der Pflichtteilsanspruch dann aus dem Weltvermögen oder nur dem Nachlass innerhalb Deutschlands?
Das ist die spannende und in etlichen Fallkonstellationen extrem streitige Frage. Experten für Erbrecht vertreten hier viele verschiedene Auffassungen. Grundproblem ist, dass das deutsche (und europäische) Recht immer vom Grundsatz der Nachlasseinheit her denkt, also Normen stets auf die gesamte weltweite Erbmasse anwenden möchte, während die anglo-amerikanischen Rechtsordnungen meist nur das Nachlassvermögen innerhalb eines speziellen Landes betrachten. Bricht hier erst einmal Streit aus, wird es extrem langwierig und in manchen Fällen nahezu unlösbar.
Ein Praxisbeispiel
Wer meint, ich übertreibe und so schwierig könne das auch wieder nicht sein, hier ein Beispiel aus unserer Praxis:
Deutsches Ehepaar lebt seit Jahren in England, besitzt aber noch eine Immobilie in Deutschland. Ehemann verstirbt 2016 und hinterlässt ein notarielles Testament. Darin hat er bewusst keine Erbeinsetzung und auch keine Rechtswahl getroffen, aber seiner Frau per Vermächtnis die Immobilie zugewendet. Die Ehefrau verstirbt zwei Jahre später, ohne das Vermächtnis zu Lebzeiten verlangt zu haben, das Grundbuch ist also unverändert. Die Eheleute haben einen Sohn, der ebenfalls in England lebt. Er stellt fest, dass das Vermögen des Vaters zu 80% aus der deutschen Immobilie besteht. Wenn er also nicht leer ausgehen will, muss er aus deutscher Sicht seinen Erbteil ausschlagen und Pflichtteil verlangen. Dann wäre rückwirkend seine (zwischenzeitlich verstorbene Mutter) Alleinerbin geworden. Diese hat in England ein englisches Testament zugunsten ihrer Enkelin (der Tochter des Sohnes) erstellt, in dem das deutsche Haus aber nicht aufgeführt ist.
In Wahrheit war der Fall noch komplizierter. Es soll für die Zwecke dieses Posts aber genügen, die Eckdaten aufzulisten. Die mit dem deutschen und englischen Nachlassgericht zu klärenden Fragen:
- Gilt für den Erbfall des Vaters deutsches oder englisches Recht? Das hat Auswirkungen auf die gesetzliche Erbfolge.
- Kann der Sohn ausschlagen und seinen Pflichteil verlangen? Falls ja, gilt die Ausschlagung dann nur für das Haus in Deutschland oder auch für das Vermögen des Vaters in UK?
- Gilt für den Erbfall der Mutter deutsches oder englisches Recht? Regelt das englische Testament nur den in UK belegenen Nachlass oder auch das deutsche Vermögen? Falls nicht, gilt die gesetzliche Erbfolge nach deutschem oder englischem Recht? Muss man zwischen Mobiliarnachlass und Immobiliarnachlass unterscheiden?
- Falls das englische Testament der Mutter auch für das deutsche Haus gilt, kann der Sohn dann auch im zweiten Erbfall wenigstens wieder seinen deutschen Pflichtteil verlangen?
- und so weiter und so fort
Sie ahnen es. Das sind noch lange nicht alle Fragen und zu fast jedem Punkt kann man verschiedene Auffassungen vertreten.
Fazit: Wer also Vermögen in verschiedenen Ländern besitzt, insbesondere auch in Ländern außerhalb der Geltung der EU-Erbrechtsverordnung, sollte dringend die verschiedenen Fallkonstellationen durchspielen und dann entsprechende Testamente mit glasklaren Anordnungen erstellen.
Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer englischspachigen Prozessabteilung (GermanCivilProcedure) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische und deutsch-amerikanische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und internationale Erbfälle. Falls Sie bei einer anglo-amerikanischen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die Anwälte der Kanzlei Graf & Partner mit ihrem internationalen Netzwerk in Europa sowie im außereuropäischen englischsprachigen Rechtsraum gerne zur Verfügung. In UK, Kanada sowie den meisten großen US-Bundesstaaten verfügen wir über gute persönliche Kontakte zu Attorneys-at-Law in mittelgroßen Kanzleien.
Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England), Telefon +49 (0) 941 – 463 7070.