Kann ich Erbe in England oder USA annehmen und in Deutschland ausschlagen?
Die EU-Erbrechtsverordnung, die für alle Erbfälle ab dem 17. August 2015 gilt, geht vom Prinzip aus, dass das Vermögen eines Verstorbenen, egal wo es sich auf der Welt befindet, einen einheitlichen, unteilbaren Nachlass darstellt, also eine einheitliche Gesamterbmasse ist (Grundsatz der Nachlasseinheit).
Dieser weltweite Nachlass soll (so die Sichtweise der EU-Erbrechtsverordnung) einheitlich nach den selben erbrechtlichen Regeln vererbt werden. Und zwar nach dem Erbrecht desjenigen Landes, in dem der oder die Verstorbene seinen/ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte (meist identisch mit dem Hauptwohnsitz).
Ein simples Beispiel eines internationalen Erbfalls:
Besaß der in Berlin lebende Rudi Reich, der dort ohne Testament verstarb, bei seinem Tod Bankkonten in Deutschland, Frankreich, England und den USA, so ordnet die EU-Erbrechtsverordnung an, dass das Vermögen – egal wo – nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge des deutschen BGB vererbt wird, also die Hälfte geht an die Witwe, die andere Hälfte an die Kinder.
Für Deutschland und Frankreich ist das in unserem Beispielsfall auch unproblematisch so, weil in diesen beiden Ländern die EU-ErbrechtsVO gilt, wie auch in fast allen anderen EU-Mitgliedsstaaten (Ausnahmen gelten für die Republik Irland und Dänemark und natürlich auch für das Vereinigte Königreich, die sind aber nun ja ohnehin ganz raus aus der EU).
Nur: England und den USA ist die EU-Erbrechtsverordnung herzlich egal. Diese Länder haben ihre eigenen Regeln zur gesetzlichen Erbfolge. In England und USA erhalten etwa die überlebenden Ehegatten in der Regel mehr als nach deutschem Erbrecht (Details zum USA-Erbrecht hier).
Zudem gehen die anglo-amerikanischen Länder, die vom Common Law geprägt sind, gerade nicht vom Prinzip der Nachlasseinheit aus, sondern vom genauen Gegenteil, dem Prinzip der Nachlassspaltung, dass also das Vermögen des Verstorbenen jeweils nach den Regeln des Landes vererbt werden, in dem das Vermögen liegt, jedenfalls wenn es sich um Immobilien handelt.
Die meisten Common Law Rechtsordnungen unterscheiden zwischen beweglichem und unbeweglichem Nachlass. Der bewegliche Nachlass (z.B. Bankkonten) werden nach den Regeln des Landes vererbt, in dem der Verstorbene sein Domicile hatte. Domicile ist tendenziell noch etwas mehr als gewöhnlicher Aufenthalt, aber in der Praxis laufen die beiden meist parallel, d.h. wo jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, dort war in den meisten Fällen auch das Domcile. Im obigen Beispiel werden damit die Bankkonten in England und USA also doch nach deutschem Erbrecht vererbt, weil es sich eben um bewegliches Vermögen handelt.
Hatte Rudi Reich dagegen Eigentumswohnungen oder Häuser in England oder USA, dann kommt es – obwohl die EU-Erbrechtsverordnung das nicht will – doch zu einer Nachlassspaltung, weil Common Law Rechtsordnung das Prinzip des „lex rei sitae“ anwenden, also die Erbrechtsgesetze des Landes gelten, in dem sich die Immobilie befindet (Juristen sagen: wo die Immobilie „belegen ist“).
In der juristischen Fachliteratur läuft das unter dem Stichwort „faktische Nachlassspaltung“. Bedeutet: Die EU-Erbrechtsverordnung möchte, dass weltweit einheitliches Erbrecht gilt, manche Länder (Drittstaaten) halten sich aber nicht daran.
Kann ich in einem Land das Erbe annehmen, im anderen Land ausschlagen?
Aus der Denke des EU-Rechts geht das – wie oben erläutert – gerade nicht, weil der weltweite Nachlass einheitlich behandelt werden soll. Die Erben des Rudi Reich können also zum Beispiel nicht erklären: Das Erbe in Deutschland nehme ich an, das Erbe in Frankreich schlage ich aus.
Innerhalb Deutschlands geht eine Teilausschlagung natürlich schon erst Recht nicht. Eine solche Rosinenpickerei verbietet § 1950 BGB ausdrücklich, was übrigens auch schon vor der EU-Erbrechtsverordnung galt.
§ 1950 Teilannahme; Teilausschlagung
Die Annahme und die Ausschlagung können nicht auf einen Teil der Erbschaft beschränkt werden. Die Annahme oder Ausschlagung eines Teils ist unwirksam.
Aber was gilt für Nachlassvermögen, bei denen sich ein Teil innerhalb des Geltungsbereichs der EU-Erbrechtsverordnung befindet, ein anderer in einem Drittstaat, also zum Beispiel USA, UK, Irland, Australien oder Südafrika.
Teilausschlagung möglich
In diesen Konstellationen ist eine Teilausschlagung nach Meinung der meisten Juristen möglich. Man kann also zum Beispiel das Erbe in England annehmen und das Erbe in Deutschland ausschlagen.
Das ist übrigens nicht nur dann sinnvoll, wenn es in Deutschland Schulden gibt. Auch wenn in Deutschland nur Nachlasaktiva vorhanden sind, kann es sinnvoll sein, dass manche Erben ausschlagen, etwa weil sie im Ausland wohnen und nicht am Erbscheinsverfahren beteiligt werden möchten.
Dann ist die einfachste Lösung die sogenannte Erbausschlagung gegen Abfindung, auch „strategische Erbausschlagung“ genannt. Der Miterbe erklärt die Ausschlagung und erhält dafür von den anderen Erben einen Betrag X ausbezahlt. Dann müssen sich die verbleibenden Erben mit einer Person weniger herumschlagen.
Gerade in internationalen Erbfällen ist diese strategische Ausschlagung gegen Abfindungszahlung oft eine charmante Lösung, um sich die mühsame gemeinsame Nachlassabwicklung mit Personen mit Wohnsitz in USA oder Australien zu ersparen.
Falls Sie bei einer anglo-amerikanischen Rechtsangelegenheit sowie in Fragen zur internationalen Erbschaftsteuer Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die Anwälte der Kanzlei Graf & Partner mit ihrem internationalen Netzwerk in Europa sowie im außereuropäischen englischsprachigen Rechtsraum gerne zur Verfügung. In UK, Kanada sowie den meisten großen US-Bundesstaaten verfügen wir über gute persönliche Kontakte zu Attorneys-at-Law in mittelgroßen Kanzleien.
Weitere Infos zum internationalen Erbrecht und zur Erbschaftsteuer in Deutschland, UK, USA und anderen Ländern:
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