Oder: Wer steht hier eigentlich wem im Weg?
Englische und US-amerikanische Verträge sind bekanntlich sehr lang und ausführlich. Das allein macht sie schon schwer verdaulich (siehe hier). Zudem verwenden die britischen und US-amerikanischen Vertragsjuristen aber auch noch viele drollig altertümliche Begriffe, die im juristischen Kontext oft eine ganz andere Bedeutug haben, als in der englischen Alltagssprache. Wir deutschen Juristen kennen das ja auch, zum Beispiel beim Begriff „grundsätzlich“, der im Alltagsdeutsch als Synonym für „immer“ verwendet wird, für Anwälte und Richter aber gerade signalisiert: das ist zwar die Regel, aber es gibt wichtige Ausnahmen von diesem Grundsatz.
Manche dieser englischen Fachbegriffe kann man als unwichtig ignorieren, etwa das beliebte „Whereas“ zu Beginn amerikanischer Verträge. Andere Wörter dagegen sind extrem gefährliche Stolperfallen. Zum Beispiel das von US-Vertragsjuristen häufig verwendete „notwithstanding„. Dieser schillernde Begriff hat etliche Bedeutungen, die sich zum Teil diametral widersprechen. Von meinem ersten Ausbilder, dem Senior-Partner einer deutschen Großkanzlei, erhielt ich daher schon vor 20 Jahren die Anweisung, den Begriff „notwithstanding“ in Vertragsentwürfen kategorisch (um das Wort grundsätzlich zu vermeiden) zu streichen und durch eine eindeutigere Umschreibung zu ersetzen.
Laut gängiger Lexika und juristischer Wörterbücher hat „notwithstanding“ (wörtlich „nichtentgegenstehend“) die Bedeutungen:
ungeachtet, trotz, dennoch, trotzdem, nichtsdestotrotz, obwohl, obgleich, unbeschadet, ohne Rücksicht auf, abweichend von, in Abänderung von.
Wo ist das Problem?
Nun, „ungeachtet“ und „unbeschadet“ bedeutet schlicht und ergreifend das genaue Gegenteil. Ein Beispiel: „Der Schuldner hat im Fall … die Rate xxx zu zahlen, ungeachtet / unbeschadet der in § 3 des Vertrags enthaltenen Zurückbehaltungsrechte.“
Mit „ungeachtet“ bedeutet der Satz, der Schuldner muss zahlen, weil die Zurückbehaltungsrechte in diesem Fall nicht greifen. Mit „unbeschadet“ bedeutet die Klausel das genaue Gegenteil, nämlich dass die Zurückbehaltungsrechte auch in diesem Fall gelten. Schöner Mist! Wenn die Parteien hierüber nachher streiten, müssen Sie dem Mandanten erklären, warum der Vertrag eine derart dopeldeutige Klausel enthält, die ihn jetzt in einen sündteuren amerikanischen Rechtsstreit zwingt.
Und lassen Sie sich bloß nicht von einem US Attorney at Law auf der Gegenseite erzählen, in USA sei völlig klar, was mit „notwithstanding“ gemeint ist und das Verständnisproblem hätten nur (dumme) deutsche Lawyer, weil diese keine Muttersprachler seien. Das Wort „notwithstanding“ verwirrt sehr wohl auch die amerikanischen Anwaltskollegen. Ein ebenso lehrreicher wie lustiger Post zum Thema von Reed Smith Anwalt Martorana findet sich hier (natürlich in Englisch). Selbst er, als US Attorney-at-Law einer internationalen Großkanzklei, kommt zum Fazit: „In the end, I tend to stay away from notwithstanding.“
Dann müssen wir als deutsche Anwälte uns auch nicht schämen, wenn wir bei den britischen und amerikanischen Kollegen zugeben, dass uns die Bedeutung nicht völlig klar ist und wir den Begriff ersetzen möchten. Je nach gewollter Bedeutung zum Beispiel entweder durch „without limiting the rights of the Seller insection … above“ oder eben mit dem genauen Gegenteil, etwa „in exception to the section .. above.“
Anyway, notwithstanding the above, viel Erfolg bei der Gestaltung englischer Verträge!
Weitere Informationen zur Vertragsgestaltung in Englisch, zum anglo-amerikanischen Gesellschaftsrecht und zu internationalen Unternehmensverkäufen finden Sie in diesen Beiträgen:
-
Wie gründet man eine englische Limited Company?
-
Unternehmensgründung in Großbritannien
-
Wie überträgt man Limited Geschäftsanteile?
-
Bringt eine UK Limited Steuervorteile?
-
Beglaubigungen in England
-
Verjährung in England (Übersicht und Vergleich zu Deutschland)
-
Unternehmenskauf in UK und USA (Was bedeutet Heads of Terms?)
– – – –
Das anglo-deutsche Anwaltsteam der Kanzlei Graf & Partner löst seit 2003 deutsch-britische und deutsch-amerikanische Rechtsfragen. Die Prozessabteilung GP Chambers berät und vertritt deutsche, britische und US-amerikanische Unternehmen in Arbitrationverfahren wie in Gerichtsprozessen.
Weitere Informationen zu Rechtsstreitigkeiten mit Briten oder vor britischen Gerichten, zur englischen Zivilprozessordnung, Prozessführung und Zwangsvollstreckung in UK in diesen Posts:
-
In englischen Rechtsstreit verwickelt?
-
Wie sieht eine Zivilklage in England aus?
-
Schmerzensgeldreform in UK
-
UK Zivilprozessordnung und Expertengutachten in England
-
Anwaltliche Versicherung in UK” (solicitor’s undertaking)
-
Mandant lügt im Zivilprozess, Anwalt haftet: Harte ZPO-Regeln vor englischen Gerichten
-
Mal schnell Klage einreichen? Nicht in England
-
Wie im Hollywood-Spielfilm: “You have been served!” (Zustellung in UK und USA)
-
Sie wollen einen EU-Titel in Großbritannien vollstrecken? Wie gut sind Ihre Nerven?
– – – –
Infos zu US-amerikanischen Rechtsfragen, Vertragsgestaltung US-Style und Abwicklung deutsch-amerikanischer Erbfälle in diesen Posts:
-
See you in Court: Nicht von US-Anwälten einschüchtern lassen
-
Erbschaft aus USA: Was nun?
-
Die Erbtante in USA – es gibt sie doch!
-
Der Verstorbene hatte Bankkonten oder Aktien in USA: Eigener US-Erbschein nötig?
-
Haftungsfalle für Erbrechtsanwälte: In USA und GB gibt es keine transmortale Vollmacht
-
Das US-Erbrecht kennt keine Pflichtteilsanspruch? Blödsinn
-
Immobilienkauf in USA: Strandhaus in Malibu? So geht’s
-
Wie im Hollywood-Spielfilm: “You have been served!” (Zustellung in UK und USA)
.
Falls Sie bei einer britisch-deutschen oder amerikanisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors der Kanzlei Lyndales gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).